Mein Inneres Kind und Ich
Was ist das Innere Kind?
Über das Thema „Inneres Kind“ gibt es gegenwärtig sehr viel Literatur. Doch was verbirgt sich hinter dieser Metapher? Das Innere Kind ist selbstverständlich keine eigene Person innerhalb eines Menschen. Gemeint sind die inneren, unbewussten Anteile eines Erwachsenen. Die Metapher „Inneres Kind“ bezieht sich also auf die Anteile, die einen direkten Zugang zu traumatischen Erlebnissen und Erfahrungen, verletzten Gefühlen und vernachlässigten Bedürfnissen aus der Kindheit haben. In diesem Fall spricht man von einem verletzten Kind in uns.
Das Mysterium Psyche
Dass jeder Mensch von seinen Kindheitserlebnissen stark geprägt wird, dass frühe Verletzungen, Kränkungen, Traumata auf das gesamte weitere Leben unbewusst eine Auswirkung haben, wissen wir seit Sigmund Freud. Er entwarf ein Strukturmodell der Psyche, indem er sie in drei Teilbereiche unterteilte: Es, Über-Ich, Ich, um eine bessere Vorstellung von dem Mysterium „Psyche“ zu haben und sie erklärbar zu machen. Aber auch diese Tendenz der Aufdröselung der Psyche ist nicht die alleinige Errungenschaft von S. Freud. Seit Hippokrates (um 400 v. Chr.) versuchte man rätselhaftes menschliches Verhalten und unverständliche Gefühlsreaktionen zu erklären, indem man unterschiedliche Modelle der Psyche entwickelte, wie z. B. Säftelehre mit vier damit verbundenen Temperamenten.
Freuds Schüler C. G. Jung sprich von dem Kind in uns und nennt es das »göttliche Kind«. Für ihn war das innere Kind die Quelle der Erneuerung, eines jeden Neuanfangs und des Göttlichen. Das Innere Kind kann also als unser natürliches Potenzial verstanden werden, das uns in die Lage versetzt, die Welt zu erforschen, zu staunen und schöpferisch zu sein ….wenn es „geheilt“ ist!
Die Macht des Unterbewusstseins
Die Kindheitserlebnisse und Erfahrungen sind in unserem Unterbewusstsein abgespeichert. Mittlerweile wissen wir, dass unser Unterbewusstsein den Großteil unserer Persönlichkeit darstellt und somit bis zu 90 % unser Leben steuert. Das bedeutet, dass der größte Teil unserer Entscheidungen, Verhaltensweisen, Reaktionen, Vorstellungen und Einstellungen unter dem Einfluss des Unterbewusstseins steht. Somit bestimmt das verletzte Kind in uns, bei einem mehr und bei anderem weniger, unser Leben und wir fühlen uns oft wie fremdgesteuert.
Wir haben in der Kindheit viele Überlebens – / Bewältigungsmechanismen entwickelt, um uns vor Verletzungen, Kränkungen oder peinlichen Situationen zu schützen und die Realität erträglicher zu machen.
Man kann sie in drei Gruppen unterteilen:
- Vermeidung (z.B. Rückzug, intensive Hobbys, Essstörungen, Verdrängung der Gefühle, Beziehungsvermeidung, Verbitterung, Schmerzen etc.)
- Unterwerfung/ Erduldung (z.B. eigene Bedürfnisse zurückstellen, übermäßiges Streben nach Anerkennung, Perfektionismus, Abhängigkeit etc.)
- (Über) Kompensation (z.B. Sucht, Neigung zur Exzessen, Helfersyndrom, unerbittliche Ansprüche, Aggressivität, erhöhte Kontrolle, Bestrafungsneigung etc.)
Die Bewältigungsstrategien
Diese Bewältigungs- /Schutzstrategien hatten und haben einen sehr starken Einfluss auf unser Verhalten, Sprachgebrauch, emotionale Ausdrucksformen, sogar Bewegungsart und Körperhaltung. Und sind diese Aspekte nicht das Endresultat dessen, was in der Psyche vor sich geht?
Diese Strategien waren in der Kindheit angebracht und sogar nützlich. Das Problem hier ist, dass bei ähnlichen Situationen im Erwachsenenalter genau diese kindlichen Gefühle wieder hoch kommen und wir uns genauso wie in der Kindheit schützen wollen. Der Erwachsene bedient sich aber der gleichen Verhaltensmuster, die er in der Kindheit gelernt oder vorgelebt bekommen hat, ohne dass er es merkt – wie sollte er das auch? Die Vergangenheit wird so zu sagen wieder durchgespielt. Zwar in anderen Szenarien, auf einer anderen Bühne, doch die Handlung bleibt die gleiche.
Die Abwehr ist eine geniale Einrichtung der Psyche, doch sie hat einen hohen Preis. Statt das Leben zu genießen, die Welt zu erforschen, neue Erfahrungen zu machen, um sich zu entfalten, beschäftigt sich das verletzte Kind damit, herauszufinden, wie es sich am effektivsten schützen kann, auf der Hut zu sein, um die Gefahren abzuwehren und später der Wahrheit über das reale Selbst aus dem Weg zu gehen.
Die Heilung des Inneren Kindes
Die Arbeit mit dem Inneren Kind ist ein Prozess der Heilung und Aussöhnung, der zu dem inneren Erwachsenwerden und zur Verantwortungsübernahme für das Innere Kind führt. Die Zukunft muss nicht genauso wie die Vergangenheit sein. „Ich übernehme die Verantwortung für die Gestaltung meiner Zukunft“. In diesem Prozess entwickeln sich folgende Fähigkeiten:
- eigene Grenzen erkennen
- angemessene Grenzen setzen
- verantwortungsvollen Umgang mit sich selbst
- Kritikfähigkeiten entwickeln
- Kontroll- und Machtbedürfnis ablegen
- blockierende Verhaltens- und Gedankenmuster erkennen
- mit der eigenen Leistung zufrieden sein
- Perfektionismus ablegen
- sich Fehler erlauben, weil es keine Fehler gibt, sondern nur Feedback
- soziale Kontakte genießen
- psychosomatische Beschwerden erkennen
Die Heilung des Inneren Kindes erfordert großen Mut, viel Energie und Geduld. Das Innere Kind heilen, bedeutet seine Bedürfnisse verstehen zu wollen, sich seinen inneren Verletzungen zu stellen und schädigende, blockierende Bewältigungs- und Schutzmechanismen abzulegen. Erst dann ist es möglich das Innere Kind zu integrieren, damit es zu einer neuen Lebensquelle wird. Diese tief greifende Arbeit ist ein Reifeprozess auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und zum Erwachsenwerden. Es lohnt sich die Masken abzulegen, mit sich selbst in Kontakt zu kommen und den Weg der Selbstfindung zu betreten!
Literatur:
Bradshaw, John: Das Kind in uns. Knaur Verlag, 2000
Bradshaw, John: Familiengeheimnisse. Goldmann Verlag, 2015
Chopich, Erika J., Paul, Margret: Ullstein Verlag, 2015